Laufbericht vom Schweicher Fährturmlauf 2015
Was zeichnet den ambitionierten Läufer aus? Erstens: Er ist immer auf der Suche nach neuen Herausforderungen. Und zweitens: Er fahndet stets nach Entschuldigungen, na ja, sagen wir Erklärungen, warum er sein Ziel nicht erreicht hat. Mal sind es die falschen Laufschuhe, mal war man beim Start zu weit hinten im Feld eingereiht. Zahnschmerzen, Magen-Darm-Infekte und Muskelverspannungen werden auch immer gerne genommen. Zur Not tut es auch der Hinweis auf die hohe Arbeitsbelastung der letzten Wochen, die kaum Zeit für ein adäquates Training gelassen hatte. Die Klassiker: Wind war zu stark, Luftfeuchtigkeit zu hoch.
Seit dem Schweicher Fährturmlauf habe ich – zumindest für den sehgeschwächten Teil der Läuferschar – noch ein weiteres hervorragendes Alibi anzubieten, wenn es mal nicht mit der angestrebten Zeit geklappt hat: die alte Brille!
Das war nämlich so: Da ich bei Wettkämpfen mein gesamtes Blut in den Beinen benötige, bleibt kaum noch was davon im Kopf übrig. Das hat zur Folge, dass das mit dem Kopfrechnen spätestens ab Kilometer 5 schwierig wird. Bei geplanten Kilometerzeiten von exakt 4 oder 5 Minuten, kriegt man das ja noch hin, aber bei mir liegt die maximal mögliche Pace halt ganz blöd irgendwo dazwischen. Also schreibe ich mir Spickzettel, und zwar beidseitig bedruckt: Auf der einen Seite die Kilometerzeiten für mein Minimalziel, auf der Rückseite jene für das ambitionierte Ziel, das ich dann anstrebe, wenn es auf der ersten Hälfte gut läuft.
Für den Fährturmlauf stehen auf meinem Spickzettel auf der Vorderseite die Kilometerzeiten 4:25, 8:50,13:15 usw., also jeweils eine Pace von 4:25 Minuten. Wenn ich das durchhalte, kann ich mit einer 4:15er Zeit auf dem letzten Kilometer noch eine Zeit von unter 44 Minuten schaffen. Breche ich nach der Hälfte der Strecke ein und muss ich Tempo rausnehmen, ist immer noch eine Zeit unter 45 Minuten drin. Läuft es jedoch sehr rund und ich fühle mich gut, drehe ich bei der Hälfte meinen Spickzettel um. Dort stehen nämlich Kilometerschnitte von 4:20 Minuten für Kilometer 6 bis 9 bzw. 4:15 für den letzten Kilometer. Schaffte ich das genauso, käme ich bei 43:40 Minuten ins Ziel. Damit hätte ich meine bisherige persönliche Bestzeit (43:46) um ein paar Sekunden getoppt.
In den letzten Monaten kam ich nie in die Verlegenheit, meinen Spickzettel nach der ersten Hälfte des Rennens zu drehen, um das Maximalziel anzupeilen, aber man weiß ja nie. Das Wintertraining war gut. Also warum nicht. Das Wetter ist ja auch nicht so schlecht und was macht schon das bisschen Wind? Vielleicht läuft es ja gut beim Schweicher Fährturmlauf.
Und es läuft gut beim Schweicher Fährturmlauf. Die ersten 5 Kilometer laufen rund. Ein Blick auf meine Uhr und meinen Spickzettel verrät mir, dass ich 4 Sekunden im Plus bin. Also drehe ich in der Hoffnung auf eine neue Bestzeit meinen Zettel von „konservativ“ auf „ehrgeizig“. Nach jedem Kilometer folgt die Kontrolle: Blick auf die Uhr, Blick auf den Zettel. Bei Kilometer 6: 26:23 auf der Uhr, 26:30 auf dem Spicker. 7 Sekunden schneller als Plan. Wow. Das kann was werden mit der neuen Bestzeit. Fühle mich noch richtig gut. Läuft irgendwie locker heute. Bei Kilometer 7: 30:50 auf der Uhr. Alles noch im Lot. Immer noch 5 Sekunden vor. Bei Kilometer 8 verliere ich etwas an Boden: Gegenwind. Macht nichts, bin immer noch gut in der Zeit, und meine Schlussoffensive kommt ja erst noch. Ich überhole und überhole. Macht richtig Spaß, auch wenn die Beine jetzt schwer werden. Bei Kilometer 9 wieder Blick auf Uhr: 39:35. Vergleich mit Spickzettel. Ist das möglich? Fast 20 Sekunden Vorsprung? Super. Ok, jetzt einfach das Ding zu Ende laufen. Keine Experimente. Die Beine tun weh, aber der letzte Kilometer war immer schon mein schnellster. Die Ecken und Kanten in der Schlussphase kosten Zeit. So what. Habe ja alle Zeit der Welt. Bloß nicht übertreiben jetzt. Kann ja nichts mehr schief gehen. Ich brauche heute nicht mehr das Letzte geben, wie es sonst so meine Art ist. Einfach nur locker und lächelnd ins Ziel laufen.
Einlauf ins Stadion: Musik, Anfeuerungsrufe. Wie immer ein tolles Gefühl. Heute ganz besonders. Bin ich doch von meiner neuen persönlichen Bestzeit bloß noch 100 Meter entfernt. Das befreiende Piepsen der Zielmatte. Geschafft.
Uhr abdrücken und erst mal durchatmen. Also, was sagt die Uhr? 43:48. 2 Sekunden langsamer als meine bisherige Bestmarke. – Moment, da kann doch was nicht stimmen. OK. Das ist eine super Zeit. Unter 44 Minuten. Hatte ich bisher nur ein einziges Mal geschafft. Und das ist 10 Monate her. Ich bin natürlich sehr glücklich darüber und könnte jedem um den Hals fallen, der mir über den Weg läuft. Aber trotzdem: Da sind doch ein paar Sekunden zu viel auf der Uhr. Da fehlen doch 3 Sekunden zu einer neuen persönlichen Bestzeit. Wie kann das sein? Ich war doch klar auf Kurs neue Bestzeit.
Erst mal warten, bis wieder etwas mehr Blut im Kopf ist. So, jetzt nochmal in Ruhe. Kilometerzeiten auf dem Spickzettel nochmal mit jenen auf der Uhr vergleichen.
Ups. Da steht bei Kilometer 9 ja eine ganz andere Zahl als ich sie gelesen hatte. Da hatte ich mich wohl um 20 Sekunden vertan. Da steht ja gar nicht 39:55 sondern 39:25 auf dem Spicker. Und meine Uhr zeigte zu diesem Zeitpunkt ja 39:35. Ich lag also nicht 20 Sekunden im Plus, sondern 10 Sekunden hinten dran. Da hatte ich also doch auf Kilometer 7 und 8 etwas Zeit verloren ohne es richtig zu merken, da ich ständig überholt hatte. Hätte aber immer noch zur Bestzeit gereicht, wenn ich den letzten Kilometer wie sonst üblich noch mal reingehauen hätte.
Hat mir meine gute alte Brille doch einen Streich gespielt. Was soll’s? Jetzt bin ich um eine Erfahrung und um eine Entschuldigung reicher: Es lag alles nur an der alten Brille.
Und außerdem: Die Saison ist noch jung. Da habe ich noch viele Gelegenheiten, meine bisherige Bestzeit zu toppen. Und wenn nicht, dann fällt mir bestimmt wieder die ein oder andere logische Erklärung dafür ein …
Bis dahin hinterlasse ich gerne den folgenden Tipp an alle ehrgeizigen bebrillten Läufer, die noch nach Entschuldigungen für ihr verpasstes Ziel suchen:
Wenn es mal Dein Tag nicht war,
dann kräm‘ Dich nicht. Beib‘ cool und lach‘.
Der Grund, das ist doch völlig klar:
Die Brille war’s. Sie war zu schwach.