Von Hammermännern, Krämpfen, Blasen und – Stolz

Laufbericht vom Marathon St. Wendel

Am Rechner sitzen und diesen Bericht schreiben, das ist genau das Richtige jetzt, nachdem ich vor 6 Stunden meinen ersten Marathon gefinisht habe. Mein Körper ist ohnehin zu keiner wie auch immer gearteten Anstrengung jenseits des Nur-da-Sitzens in der Lage. Und außerdem ist das Bericht-Schreiben für mich ein Stück „persönliche Marathonrevue“ mit allem was dazugehört: nachträgliches Wundenlecken da, wo es richtig hart war, und Glücksgefühle und Stolz entfalten über das erreichte Ziel.

Aber von Anfang an:

5:30 Uhr
Aufstehen. Bin ohne Wecker aufgewacht, habe die Nacht eh kaum geschlafen. Macht nichts. Endlich ist er da, der große Tag. Der Tag meines ersten Marathons, auf den ich mich seit November intensiv vorbereitet habe. Die Klamotten sind zurechtgelegt, die Taktik definiert, der Ernährungsplan steht: Zwei Weizenbrötchen mit Honig und Banane. Dazu Kräutertee. Und, ach ja: Trinken, trinken, trinken. Den ersten Liter Wasser, optisch und geschmacksmäßig aufgehübscht mit etwas Apfelsaft, habe ich vor dem Frühstück bereits intus. Gut so. Bis zum Start habe ich genügend Zeit, das wieder alles loszuwerden.

7:45 Uhr
Andreas und Reinhard warten am Lidl Parkplatz auf mich. Gemeinsam geht es nach St. Wendel, ein Ort, den ich bisher nur von Nummernschildern kannte. Liegt ziemlich abgelegen, aber trotz diverser Umleitungen sind wir zeitig da.

8:00 Uhr
Parkplatz suchen, Startunterlagen abholen, Gepäck wieder ins Auto, und dann zum Startblock. Dazwischen diverse obligatorische Besuche bei den zahlreichen Dixiklos. Nicht dass da nachher noch was drückt. Das Einlaufen beschränkt sich auf 200 bis 300 Metern. Zu Laufen haben wir noch genug nachher.

9:00 Uhr
Startschuss. Der Zug aus etwas 350 Marathon- und Staffelmarathonläufern setzt sich in Bewegung. Andreas und ich wollen mit einer 5:05er Pace loslaufen und versuchen, diese solange wie möglich beizubehalten. Also reihen wir uns zwischen dem 3:30er und dem 3:45er Zugläufer ein. Nach einem Kilometer haben wir den 3:30er Zugläufer überholt, obwohl wir deutlich langsamer sind als geplant. Es ist kalt, sicher unter 5°, doch die Sonne scheint, und nach wenigen Kilometern sind die niedrigen Temperaturen kein Problem mehr. Der Wind ist recht kräftig, aber noch stört er mich nicht allzu sehr.

Kilometer 5
Der 3:30er Paceläufer überholt uns. Die Ordnung ist wieder hergestellt. Wir halten unseren Schnitt ziemlich genau. Die erste Verpflegungsstelle wird gleich genutzt, um etwas Wasser zu trinken. Und da steht er. Hans Burkholz. Hans ist langjähriges Mitglied der TG Konz, mein Nachbar und hat einen nicht unwesentlichen Anteil daran, dass ich zum ambitionierten Läufer geworden bin. Er ist tatsächlich gekommen. Und Christel hat er auch mitgebracht. Ich sehe die beiden, noch bevor sie mich ausmachen können. Vermutlich suchen sie nach der schwarzen TG Laufkleidung. Aber Andreas und ich tragen natürlich das blaue Werbeshirt für den Wurzelweglauf. Tatsächlich wurden wir während des Laufs von zwei, drei Interessierten darauf angesprochen. 🙂

Kilometer 10
Wir haben die elendiglich lange Wendepunktstrecke auf der B41 hinter uns. Zumindest den ersten Durchlauf. Noch läuft alles rund. Zeitplan passt. Stück Banane, Wasser und weiter. Ich probiere Andreas‘ Trick mit dem Strohhalm aus, den ich wie eine Indianerfeder unter dem Stirnband befestigt habe und an den Getränkestationen herausnehme. Klappt wirklich gut. Na ja, sagen wir, ich verschütte nur die Hälfte des Wassers anstatt der sonst üblichen zwei Drittel. Andy vom SV Harbach bei Eppelborn gesellt sich zu uns. Er läuft heute auch seinen ersten Marathon und strebt etwa die gleiche Zielzeit an. Er ist gut drauf und sorgt für Unterhaltung. Ich halte mich da eher zurück. Brauche die Kraft sicher noch. Hans ist auch wieder zur Stelle und bestätigt, dass wir sehr gut die Zeit halten.

Kilometer 15
Immer noch läuft es rund. Wir haben knapp eine halbe Minute auf unseren geplanten Schnitt herausgelaufen. Hoffentlich rächt sich das nicht später. Aber es gibt ein gutes Gefühl, etwas Puffer zu haben. Und Hans ruft uns zu: „Ihr lauft wie ein Uhrwerk.“ Das motiviert. Ich horche in mich hinein. Tut da nicht irgendwas weh. Leiste? Zwickt ein bisschen, sollte aber kein Problem sein. Rechtes und linkes Knie? Komisch, während des Taperings fingen die plötzlich an zu schmerzen. Jetzt nicht mehr. Füße? Noch verrichten sie brav ihren Dienst.

Kilometer 20
Ziehe mir vor der Wasserstelle das erste der vier geplanten Gels rein. Hammermann-Prophylaxe sozusagen.

Kilometer 21.1
Zur Halbzeit immer noch alles im grünen Bereich, auch wenn die Beine sich nun etwas schwerer anfühlen. Andreas und Andy haben das Tempo auf den letzten Kilometern etwas angezogen. Jetzt wird es mir aber doch zu schnell. Deutlich unter 5er Schnitt. Das ist mir zu gefährlich. Ich lasse sie laufen. Bleibe bei meiner Pace.

Kilometer 25
Ich liege gut im Rennen. Hans steht auch wieder irgendwo an der Strecke und bestätigt mir eine regelmäßige Laufeinteilung. Zweites Gel, Wasser mit Strohhalm, weiter. Ich bin jetzt eine Minute schneller als geplant. Mir wird bewusst, dass noch 17 Kilometer vor mir liegen. Das ist mehr als die Distanz meiner donnerstäglichen Tempoläufe. Und die laufe ich in der Regel doch etwas langsamer als diesen Marathon. Die ersten Zweifel kommen: Schaffe ich die verbleibenden 17 Kilometer in dieser Pace? Werde ich überhaupt im Ziel ankommen? Bei den zahlreichen Wendepunkten reagieren die Waden und Oberschenkel etwas komisch. Da werden doch wohl keine Krämpfe auf mich warten? Oder noch schlimmer: Das werden doch wohl nicht erste Anzeichen für den heraneilenden Mann mit dem Hammer sein.

Kilometer 30
Drittes Gel. Wasserstelle. Immer noch ein komfortabler Vorsprung auf meine geplante Zeit. Mir ist jetzt klar, dass ich diesen Puffer mehr als nötig habe. Die Beine sind jetzt ziemlich schwer. Aber was mich noch mehr beunruhigt: Mein Magen fühlt sich nicht so gut an. Dieses Gelzeugs war vielleicht doch keine gute Idee. Außerdem steigt die Krampfgefahr von Kilometer zu Kilometer. Ich spüre, dass ich dieses Tempo nicht mehr lange durchhalte. Ist er jetzt da, der Hammermann? Mir kommen ganz sonderbare Gedanken: Du wirst diesen Marathon hier durchziehen. Deinen ersten. Und der wird vermutlich auch Dein letzter sein.

Kilometer 33,33
So weit war mein bisher längster Trainingslauf. Jetzt betrete ich Neuland. Noch nie bin ich länger gelaufen am Stück. Ich ahnte, dass es sehr schwer werden wird auf den letzten 10 Kilometern. Deswegen habe ich mir vor dem Lauf eine Motivationsstrategie zurechtgelegt: Wenn es hart wird, denk darüber nach, was Du nach dem Lauf darüber in Deinen Bericht schreibst. OK. Also was schreibe ich zu Kilometer 33,33? Ich werde schreiben, dass mir mein Magen Sorgen bereitet, dass es wieder einmal bergauf geht (wie oft eigentlich noch?) und ich zur Linken 2 Ziegen auf einer Weide sehe, während mir zu meiner Rechten jene Läufer entgegenkommen, die zu diesem Zeitpunkt bereits 2 Kilometer mehr auf dem Buckel haben als ich. Wie ich die beneide …

Kilometer 35
Mein Puffer ist weg. Und noch sind es 7 lange Kilometer. Ein Gel habe ich noch in meiner Tasche. Das wäre jetzt eigentlich fällig. Nein danke. Ich verzichte. Noch so ein Ding und ich füttere die Ziegen, die ich gerade wieder passiere. Nicht auszudenken, was mit den Tieren passierte, würden sie sich über meine glykogenhaltigen Hinterlassenschaften hermachen. Stattdessen trinke ich etwas von dem Isozeug, das hier angeboten wird. Strohhalm brauche ich nicht mehr. Ich halte nämlich an zum Trinken. Dann gehe ich ein paar Meter. Ja. Ich gehe. Laufen mag mein Magen im Moment nämlich gar nicht während des Trinkens. Das kostet Zeit. Aber das ist mir längst egal. Es geht jetzt nicht mehr um eine bestimmte Zeit. Es geht jetzt darum, im Ziel anzukommen, ohne vorher das Frühstück mit samt den klebrigen Gels aus den falschen Körperöffnungen zu entsorgen. Keine Ahnung, ob der Mann mit dem Hammer hier seine Hand im Spiel hat. Wenn ja, dann hat er sich ganz fies angeschlichen in den letzten 5 bis 10 Kilometern. Und er hat sich verkleidet als „Magenmann“. Mittlerweile bin ich mir sicher: Dieser Marathon war mein erster und wird mein letzter sein.

Kilometer 40
Der rechte große Zeh meldet Schmerz. Fühlt sich nach Blase an. Aber das ist im Moment mein geringstes Problem. Die Übelkeit ist das vorherrschende Thema. Noch gut zwei Kilometer. Das muss zu schaffen sein. Hans steht da irgendwo. Ich schaffe es aber kaum noch, Blickkontakt mit ihm aufzunehmen. Vielleicht will ich es ihm und mir aber auch ersparen, mir zu bestätigen, was ich eh schon weiß: Es ist längst nichts mehr mit Laufen wie ein Uhrwerk. Meine Zeit habe ich die letzten Kilometer erst gar nicht mehr mit meinem Spickzettel verglichen. Jetzt zwinge ich meinen Kopf doch nochmal, ein bisschen zu rechnen: 3:26:45 lese ich auf meiner Uhr. Selbst wenn ich bis zum Schluss nur noch eine Pace von 6 Minuten pro Kilometer laufe, bleibe ich noch unter 3:40. 6 Minuten habe ich bisher nur für einen einzigen Kilometer gebraucht, bergauf und mit Gehpause an der Wasserstelle. Magendrücken hin oder her. Ich schaffe das. Es wird alles gut. Wenn mein Marathondebüt schon mein marathonmäßiges Karriereende bedeuten wird, will ich wenigstens mit Anstand im Ziel ankommen.

Zieleinlauf
Wo ist es denn, das Glücksgefühl? Na komm schon! Haaaallo, Glücksgefühl? Nichts zu machen. Wo bleibt ihr denn, Ihr vielgerühmten Endorphine? Ich fühle nur Schmerz und vor allem Übelkeit. Andreas und Reinhard empfangen mich. Andreas ist mit einer unglaublichen Zielzeit von 3:32:28 schon lange im Ziel und fast wieder regeneriert. Reinhard musste bei Kilometer 30 leider wegen starker Krämpfe aussteigen. Da ging es mir ja noch vergleichsweise gut. Aber ich kann noch gar nicht richtig mit den beiden sprechen. Ich habe Durst. Aber ich traue mich nicht zu trinken. Noch ist Gefahr im Verzuge. Ich muss mich setzen. Gefährlich. Irgendwann muss ich ja wieder aufstehen. Ich fange an zu frieren. Mit höchster Krampfgefahr begebe ich mich auf die Reise zu dem 20 Meter entfernten Absperrgitter, wo ich meinen vor dem Rennen deponierten Pullover vermute. Ich schaffe es. Eben so.

12:50
Ich horche nochmal nach innen: Ich habe es tatsächlich geschafft. Mein erster Marathon In einer Bombenzeit von 3:38:54,7. Ist da jetzt doch ein klitzekleines Glücksgefühl? Ich weiß es nicht. Aber eines spüre ich jetzt: Stolz. Reinhard bestätigt: Der Schmerz geht. Der Ruhm bleibt.

12:55
Magen und Beine hin oder her, ein Zielfoto mit Andreas und Reinhard muss sein. Ich bemühe mich, meinem Gesicht ein lockeres und entspanntes Lächeln abzuringen. Vergeblich.

13:00
Es beginnt ein zweiter Marathon. Der Fußweg zurück zum Auto. Bergauf. Was sonst. Es sind vermutlich keine 500 Meter, aber ich habe das Gefühl, dass ich dafür fast so lange brauche wie für den Marathon.

13:10
Wo sind die Duschen? Gemäß Lagepan müsste die Halle direkt neben dem Parkplatz liegen. Hm. Da haben die Organisatoren wohl etwas gemogelt mit dem Plan. Wieso sonst fahren hier ständig Shuttlebusse von Ziel zu Parkplatz zu Sporthalle und zurück? Was soll’s? Noch selten habe ich mich über Busfahren so gefreut wie heute. Auch wenn das Ein- und Aussteigen schon mal leichter gefallen ist. In der Duschkabine wartet das nächste Problem auf mich: Wie um alles in der Welt soll ich meine Kompressionsstrümpfe ausziehen, ohne einen Krampfanfall zu bekommen. Ich kann die Dinger ja schlecht zum Duschen anbehalten. Es geht. Irgendwie.

13:40
Wir sitzen wieder im Auto. Keine Ahnung, wie ich da ohne Rollator hingekommen bin. Frisch geduscht sieht die Welt jetzt schon wieder anders aus. Der Magen hat sich auch einigermaßen beruhigt. Auf der Rückfahrt unterhalten wir uns dann über – na über was wohl? Ich ertappe mich doch tatsächlich bei der Aussage: „Bei meinem nächsten Marathon verzichte ich auf die komischen Gels.“ Habe ich das jetzt tatsächlich gesagt? Keine zwei Stunden vorher hätte ich Mark und Bein geschworen, dass das Abenteuer Marathon mit diesem Tag für mich abgeschlossen ist. Noch nicht mal auf seine eigene Meinung kann man sich verlassen. 🙂

Läufst Du Dein‘ ersten Marathon,
dann wirst Du leiden, hadern, fleh’n.
Du bist Dir sicher: Das war’s auch schon.
Doch denke dran: Schmerzen vergeh’n.

 

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9 Gedanken zu „Von Hammermännern, Krämpfen, Blasen und – Stolz“

  1. Klasse geschrieben, wie immer, und mir absolut aus dem Herzen gesprochen!!!!
    Trotzdem war das nicht Dein letzter….?!

  2. Danke Petra. Und wenn Du sagst, dass dieser Marathon nicht mein letzter war, dann werde ich mich hüten, Dir zu widersprechen. Dass ich überhaupt jemals einen Marathon laufen werde, hast Du ja auch vor mir gewusst.

  3. Glückwunsch an Euch alle zu den tollen Marathonläufen und -erlebnissen! Naja, Bauchschmerzen brauchts nicht aber sowas gehört halt auch dazu, hattest Du keine Gelaufnahme vorher mal getestet? Ich mach es so, daß wenn ich überhaupt was zu mir nehme ich das über den Mund aufnehme, d.h. im Mund zergehen lasse statt es direkt runterzuschlucken. Das schont den Magen, da der Speichel bereits zur Aufspaltung der Kohlenhydrate beiträgt. Klebrig aber effektiv. Das Ganze möglichst ein gutes Stück vor der Wasserstelle, um nachspülen zu können.

    Wetten, die Halbwertszeit dieses Satzes bemisst sich in Tagen: „Mittlerweile bin ich mir sicher: Dieser Marathon war mein erster und wird mein letzter sein.“ 🙂

    1. Danke für die Glückwünsche, Boris. Die Halbwertszeit des von Dir zitierten Satzes war bereits wenige Stunden nach dem Marathon abgelaufen 🙂 Ich feile bereits an der „Ernährungsstrategie“ für meinen nächsten Marathon. Ausprobiert hatte ich das Gel beim letzten HM. Aber halt nur eins und keine 3 + Bananen. Man lernt nie aus 🙂

    2. Mittlerweile gibt es ja auch schon die Gel-Chips. Werden direkt im Mund resorpiert,
      kleben nicht und müssen auch nicht nachgespült werden. Erinnern so ein wenig an Marshmallows :-).

  4. Danke für den Tip, Ute. Habe gleich mal gegoogelt. Das mit den Gel-Chips werde ich mal ausprobieren. Glückwunsch nochmal an Euch beide zu dem gelungenen Marathon in Hamburg.

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